Freitag, 5. Dezember 2014

Schwarzer Peter für Schlaubi-Schlumpf (oder: Blackfacing for Africa)

Die Klasse 8a des Gymnasiums Groß Söfingen berät darüber, was sie zur Weihnachtsfeier der Schule beitragen soll. Der Erlös dieser Weihnachtsfeier wird dem Hilfswerk Terre des Hommes zu Gute kommen, das in Mali Brunnen bohrt. Lehrerin Linda Laarmann gibt sich alle Mühe, den Namen der Hilfsorganisation korrekt französisch auszusprechen. Teerdesomm. So richtig französisch klingt es aber doch nicht. 

"Wir könnten Geld dafür nehmen, dass die Besucher sich mit dem Weihnachtsmann fotografieren lassen", schlägt jemand vor. Die Idee kommt gut an, und schnell sind sich alle einig, dass Nikolaus Nölting den Weihnachtsmann spielen soll - wo er doch sowieso schon Nikolaus heißt, das passt doch prima, ho ho ho. Aber dann wirft jemand die Frage auf: "Und was machen die Anderen die ganze Zeit?" 

Es wird erwogen, dass sich ja auch noch andere Schüler verkleiden könnten - zwar nicht als Weihnachtsmann, denn den dürfe es nur einmal geben; aber als Engel, als Weihnachtselfen, vielleicht sogar als Rentiere. Letzteres wird dann aber doch als zu aufwändig verworfen. 
"Und wie wäre es mit dem Schwarzen Piet?", ruft Billy Bolte in die Runde. Billy ist etwas klein gewachsen für sein Alter und trägt eine zu große Hornbrille, aber dafür ist er Klassenbester. All dies zusammengenommen hat ihm den Spitznamen 'Schlaubi-Schlumpf' eingebracht. Und er macht diesem Spitznamen wieder einmal alle Ehre, denn keiner seiner Mitschüler hat eine Ahnung, wovon er redet. 
"Der Schwarze Piet", doziert Billy ungerührt, "ist eine traditionelle Figur aus den Niederlanden." (Es ist typisch für 'Schlaubi-Schlumpf', dass er 'Niederlande' sagt und nicht 'Holland'.) "Er ist da der Begleiter des Nikolaus, so wie bei uns Knecht Ruprecht." 
"Und wie sieht der aus?", fragt jemand. 
"Ach, der hat einfach irgendeinen Hut auf und einen Umhang um, aber vor allem hat er ein schwarzes Gesicht." 

Wie auf Kommando richten sich alle Augen auf Jeremy Rössing - das einzige dunkelhäutige Kind in der Klasse, das einzige dunkelhäutige Kind auf dieser Schule, ja, wahrscheinlich sogar das einzige dunkelhäutige Kind in der ganzen Samtgemeinde. Wie Bettina Rössing zu einem dunkelhäutigen Kind gekommen ist, weiß keiner so genau, außer ihr selbst wahrscheinlich. Üblicherweise steht stets der Paketbote im Verdacht, für uneheliche Kinder in der Samtgemeinde verantwortlich zu sein - und tatsächlich ist es auffällig, dass gerade alleinstehende Frauen außerordentlich viel Kram aus irgendwelchen Versandkatalogen bestellen. Heutzutage vielleicht auch oder sogar hauptsächlich aus dem Internet, aber in den kleineren Dörfern und Flecken der Samtgemeinde gibt es das vielfach noch gar nicht. Zum Teil nicht einmal Kabelfernsehen, was die Bestellmöglichkeiten noch weiter einschränkt. Muss also doch der gute alte Katalog herhalten. Aber einen schwarzen Paketboten hat in der Samtgemeinde noch nie jemand gesehen. 

Wirklich gewundert hat sich andererseits aber auch niemand über Bettina Rössings dunkelhäutiges Kind. Bei dieser Familie wundert man sich schon lange über gar nichts mehr. Bettina wohnt zwar schon seit Jahren in Klein Söfingen und arbeitet im Handarbeitsgeschäft von Gisela Puvogel, aber sie gehört zu den Rössings aus Achternbeek, und das ist eine seit Generationen verrufene Familie. Uneheliche Kinder, Inzest, Gattenmord, Alkoholismus, Spielschulden, Versicherungsbetrug durch Brandstiftung, das scheint bei den Rössings aus Achternbeek geradezu an der Tagesordnung zu sein. Mit den Rössings auf Gut Rössingen sind die nur ganz entfernt verwandt. Aber man kann sich vorstellen, wie die alte Bertha Rössing auf Gut Rössingen Woche für Woche die Hände über dem Kopf zusammenschlägt über das, was ihre entfernten Verwandten in Achternbeek sich so alles leisten, und insgeheim darüber flucht, dass sie denselben Familiennamen tragen wie sie. Sie selbst ist zwar nur angeheiratet, sie ist eine geborene Nolte, gehört aber immerhin schon seit über fünfzig Jahren zu den Rössings - den echten Rössings, wie sie sagen würde. 

Jeremy Rössing mag es nicht, wenn ihn alle anstarren, und er hat auch keine Lust, bei der Weihnachtsfeier den Schwarzen Peter zu spielen. Letzten Winter hat der katholische Pfarrer von Klein Söfingen ihn gefragt, ob er beim Dreikönigssingen in der Schlesiersiedlung mitmachen wolle, als Mohrenkönig. Er hätte vielleicht ja gesagt, aber seine Mutter war dagegen. Jetzt denkt er, ein Mohrenkönig wäre doch immer noch etwas Besseres gewesen als der Schwarze Peter. 

Plötzlich meldet sich Jacqueline Schmidtjohann, die Klassenprinzessin, zu Wort. Sich selbst hat sie bereits die Rolle eines Engels gesichert - das passt zu ihr, zumindest was das Aussehen betrifft. "Aber wäre es nicht unsinnig", meint sie, "jemanden schwarz anzumalen, der sowieso schon schwarz ist?" 
Vielstimmiges Gemurmel und Getuschel erfüllt den Klassenraum; die meisten Mitschüler scheinen sich unsicher zu sein, was sie von diesem Einwand halten sollen. Nicht jedoch Wiebke Wieting, Jacquelines ewige Rivalin, die auch einen Engel hatte spielen wollen, aber den strategischen Nachteil hat, etwas kleiner, etwas weniger schlank und etwas weniger blond zu sein als Jacqueline. "Unsinn", wirft sie ein. "Das ist doch gerade das Gute, dass wir Jeremy gar nicht erst anmalen müssen." 
Einen Moment lang scheint es, als hätte Wiebke die Klasse auf ihre Seite gebracht; aber der Moment vergeht schnell. "Nein, Jacqueline hat Recht", dekretiert 'Schlaubi-Schlumpf' mit seiner hellen, aber festen Stimme. "Der Scharze Piet muss ein schwarz angemalter Weißer sein und kein echter Schwarzer. Das ist Tradition." 
Jeremy Rössing nimmt diese Wendung der Ereignisse mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Einerseits ist er ganz froh, nicht den Schwarzen Peter spielen zu müssen. Andererseits findet er es aber doch ein bisschen diskriminierend, dass er keinen Schwarzen spielen darf, weil er ein Schwarzer ist

Der Rest der Klasse beschließt nahezu einstimmig, dann solle Billy Bolte alias 'Schlaubi-Schlumpf' den Schwarzen Piet eben selber spielen. Ob als Belohnung dafür, dass es seine Idee war, oder als Strafe für seine ewige Klugscheißerei, sei mal dahingestellt. 

Die Diskussion über die Schulweihnachtsfeier scheint abgeschlossen, aber da recken Fabian Wesolowski und Marvin Müllerklaus ihre Arme in die Höhe: Sie haben sich ein eigenes Projekt ausgedacht, sie wollen Gebäckschalen aus alten Vinylschallplatten herstellen und verkaufen. Was ihre Mitschüler von dieser Idee halten, ist ihnen an den Gesichtern anzusehen: Na das war ja klar, dass die beiden wieder eine Extrawurst brauchen. Fabian Wesolowski kommt aus der Schlesiersiedlung in Klein Söfingen, und die Schlesier sind bekannt dafür, bei jeder Gelegenheit ihr eigenes Süppchen zu kochen. Die haben ja sogar ihre eigene Kirche und lassen ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht gehen. Und Marvin Müllerklaus kommt zwar nicht aus der Schlesiersiedlung, ist aber erstaunlicherweise trotzdem Fabians bester Freund. Aber wenn sie unbedingt Schüsseln aus alten Schallplatten basteln wollen: Sollen sie doch

Somit sind alle zufrieden, nur Lehrerin Linda Laarmann macht sich Gedanken. Irgendwo, so meint sie sich zu erinnern, hat sie gehört oder gelesen, dass es in den Niederlanden massive Proteste gegen die Figur des 'Schwarzen Piet' als Begleiter des Nikolaus gibt. Weil diese Figur angeblich rassistisch sei. Im Lehrerzimmer schildert sie ihre Bedenken einem Kollegen, aber der meint: "Na, immerhin werden von dem Geld, das ihr mit dieser Aktion einnehmt, Brunnen in Mali gebohrt. Da wird man euch wohl kaum Rassismus vorwerfen können." 


[Inspirationsquelle: siehe hier.] 

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