Samstag, 6. Dezember 2014

Weihnachtsmarkt mit Tinnef und Gedöns

Die Puvogel-Frauen, und zwar alle Frauen dieser Familie, auch und besonders die angeheirateten, sind berüchtigt für ihre sozialpädagogische Ader. Annemie Puvogel zum Beispiel, obwohl sie von Beruf eigentlich Chemielaborantin ist und bei LiquiTech in Medeloh arbeitet. Besser gesagt: gearbeitet hat, bevor die Fabrik explodiert ist. Zu ihrem Glück fand die Explosion außerhalb ihrer Arbeitszeit statt. Ihr Gehalt wird ihr vorerst weitergezahlt. Und dann muss man mal sehen. 

Eigentlich heißt Annemie Puvogel natürlich Annemarie mit Vornamen, aber sie wurde schon als Kind Annemie gerufen, und dabei ist es geblieben. Zumindest soweit es ihre Verwandten und Freunde betrifft. Menschen, die ihr weniger wohlgesonnen sind, nennen sie hinter ihrem Rücken auch gern Pannemarie - einerseits wohl, weil die Leute hier einfach eine Vorliebe für alliterierende Vor- und Nachnamen haben, andererseits und vor allem aber, weil Annemie Puvogel so vertrottelte Hobbies hat wie die Anfertigung von Schmuck aus gebrauchten Nespresso-Kapseln

Das klingt abwegig, aber es ist wahr: Annemie Puvogel bastelt aus ausgelutschten Aluminium-Näpfchen Armbänder, Halsketten, Broschen, Haarspangen und allen möglichen sonstigen Tinnef, womöglich sogar Ohrringe. Sie hat dieses Hobby schon länger, aber seit sie den ganzen Tag zu Hause sitzt, ist ihre Produktion sprunghaft angestiegen. Stellt sich natürlich die Frage, wohin mit dem ganzen Ramsch. Glücklicherweise ist demnächst Weihnachtsmarkt in Gössweiler, und da will Pannemarie ihre 'Creationen' an den Mann oder die Frau bringen. 

Diese Information verdanke ich meiner Tätigkeit als Lokalredakteur beim Landkreisboten. Ich bin einer von genau vier hauptberuflichen Mitarbeitern dieser Lokalredaktion, einschließlich eines Fotografen. Nun gut, es ist eben eine kleine Zeitung - aber die Samtgemeinde ist groß, und wir paar Hauptberuflichen können nicht überall zugleich sein. Folglich sind wir in unserem Berufsalltag auf die Zuarbeit so genannter 'freier Mitarbeiter' angewiesen. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich zum Teil Schüler der oberen Klassen des Gymnasiums Groß Söfingen, zum Teil Hausfrauen, zum Teil Lehrer oder andere Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und zum Teil Rentner. Damit decken wir immerhin ein recht großes Interessenspektrum ab - sage ich mir manchmal, wenn ich etwas Aufmunterung brauche. Ich würde gern behaupten, so unterschiedlich wie unsere freien Mitarbeiter sei auch die Qualität ihrer Beiträge; aber ich fürchte, da müsste ich lügen. 

Ich war somit von vornherein nicht besonders euphorisch, als Barbara Nölting freudestrahlend einen Vorbericht zum Weihnachtsmarkt in Gössweiler bei mir einreichte. Barbara Nölting gehört zur Hausfrauenfraktion unserer freien Mitarbeiter - und außerdem, auch wenn das eigentlich nichts zur Sache tut, gehört sie zu den hier auf dem Lande gar nicht so seltenen Frauen, die ihr ganzes Leben lang aussehen wie Vierzig. Schon auf den Gruppenfotos von ihrer Konfirmation sieht sie aus wie Vierzig, und ich vermute mal, wenn sie eines fernen Tages ihre Goldenen Hochzeit feiert oder ihr erstes Urenkelkind aus der Taufe hebt, wird sie immer noch aussehen wie Vierzig. Irgendwie also durchaus beneidenswert, aber eben erst ab einem gewissen Alter.

Kaum dass sie mein Büro verlassen hatte und ich mich mit einem unterdrückten Seufzer der Lektüre ihres Berichts zuwenden wollte, hatte ich plötzlich eine Vision: wie ich in zwanzig oder noch mehr Jahren immer noch in dieser Lokalredaktion sitze, wie die unverändert vierzigjährig aussehende Barbara Nölting einen Artikel bei mir einreicht und ich ihn ungelesen durchwinke - den Text, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen, einfach an den Setzer weiterleite. Aus purem Überdruss daran, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr den ganzen Quatsch lesen zu müssen, den die freien Mitarbeiter mir abliefern. Wobei ich jedoch nicht auf einen Versuch verzichte, diesen Überdruss mit vorgeschobenen Argumenten zu bemänteln. Barbara ist eine erfahrene und bewährte Mitarbeiterin, es wird schon in Ordnung sein, was sie geschrieben hat. Nicht gut, aber in Ordnung.

Die Vision zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich nahm noch einen Schluck Kaffee zur Stärkung meiner Nerven, dann biss ich die Zähne zusammen und machte mich daran, Barbaras Weihnachtsmarkt-Vorbericht zu lesen.

Der Text war rund 4.000 Zeichen lang, ein bisschen viel für die bloße Ankündigung einer bevorstehenden Veranstaltung, aber nun gut, irgendwie müssen wir die Zeitung schließlich jeden Tag voll kriegen. Auch die Formulierung "Volle zwei Tage lang wird der Weihnachtsmarkt das Pflaster des Marktplatzes von Gössweiler zum Glühen bringen" ließ ich Barbara achselzuckend durchgehen. Ausgesprochen konsterniert war ich jedoch, festzustellen, dass mehr als drei Viertel des Artikels sich ausschließlich um Annemie Puvogels Schmuckstücke aus Nespresso-Kapseln drehten.
Annemie kam ausgiebig selbst zu Wort - durfte berichten, dass ihr die Idee zu diesem Hobby im Zusammenhang mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Seniorenheim gekommen sei (die sie inzwischen aufgegeben hat, weil sie davon Depressionen bekommen hat - was jedoch nicht erwähnt wurde); durfte sich lang und breit darüber auslassen, dass sie selbst keine Nespresso-Maschine habe, obwohl der Kaffee sehr lecker sei, aber ihrem Mann seien die Maschine und vor allem die Kapseln einfach zu teuer, und deshalb müsse sie sich das Material für ihr 'Kunsthandwerk' eben bei Anderen zusammensammeln, bei Freunden, Nachbarn  und Arbeitskollegen (Arbeitskollegen! Vor meinem geistigen Auge flog die LiquiTech-Fabrik in Medeloh ein zweites Mal in die Luft, und ich fragte mich, ob die Leser wohl dieselbe Assoziation haben würden, zumindest diejenigen Leser, die wissen, wo Annemie gearbeitet hat); und dann folgten wortreiche, aber seltsam unanschaulich bleibende Beschreibungen einiger von Annemies 'Creationen'. Fotos hatte Barbara dem Artikel nicht beigefügt, und ich nahm an, dass das seine Gründe hatte. Dass sich an dem Weihnachtsmarkt in Gössweiler neben Annemie Puvogel noch über hundert weitere Aussteller beteiligen, erwähnte der Artikel nur beiläufig.

Glaubt man Barbara Nölting, dann kann man den Eindruck gewinnen, Pannemaries Schmuck aus Aluminiumabfällen wäre die größte Attraktion des ganzen Weihnachtsmarkts. Aber im Grunde ist das gar nicht so überraschend, wenn man weiß, was - neben mir selbst - ziemlich sicher zahlreiche Leser des Landkreisboten wissen werden: dass Barbara Nölting eine Schwägerin von Pannemarie ist. Und somit eine geborene Puvogel.

Mit einem diesmal nicht unterdrückten Seufzer machte ich mir klar, dass mir, um den Artikel zu verbessern, wohl nichts Anderes übrig blieb, als selbst Erkundigungen einzuziehen, was der Weihnachtsmarkt denn noch so zu bieten haben wird. Also griff ich zum Telefon und rief bei einigen Geschäften in Gössweiler an, außerdem bei den Vorsitzenden oder Pressesprechern einiger örtlicher Vereine.
Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal sagen würde, aber verglichen mit dem Programm dieses Weihnachtsmarkts in Gössweiler hatte der letzte Groß Söfinger Adventsmarkt fast schon großstädtisches Flair. Da gab es Mädchen mit Rastalocken, die Hanfprodukte und vegane Lebkuchen verkauften, und die Freie Waldorfschule bot Kurse für Moosgärtnern, Kerzenziehen und Strohsternbasteln an. In Gössweiler hingegen heißen die Programmhöhepunkte Tombola und Ponyreiten, Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, Shantychor und Jagdhornbläser aus Kirchmänningen mit einem "aus kirchlichen und weihnachtlichen Stücken gemischten Programm" - und "im Laufe des Nachmittags wird zudem der Weihnachtsmann erwartet"! Damit nicht genug, teilte man mir schließlich mit, "als geselligen Abschluss" werde es eine "Weihnachtsparty in der Schützenhalle" geben. Sowas kann man doch nicht schreiben, dachte ich und warf das schnurlose Telefon entnervt aufstöhnend auf einen Stapel unerledigter Post auf meinem Schreibtisch. Dann schon lieber Pannemarie mit ihrem schrottigen Alu-Schmuck. 



[Inspirationsquelle: siehe hier.] 

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