Mittwoch, 14. Januar 2015

Ein Wolfsberater kommt -- Teil 1

Über dem Wetterhof in Winnenhögede geht die Sonne auf, aber Bauer Eilert Schmidtjohann ist schon seit ein paar Stunden auf den Beinen. Die Kühe mussten gemolken, die Hühner und Schweine versorgt werden und was nicht noch alles. Erst als die wichtigsten Morgenarbeiten erledigt sind und er sich außerdem gründlich gewaschen hat, gönnt er sich ein Frühstück. Seine Frau Lena, die schon mit den Kindern gefrühstückt hat, bevor sie diese je nach Alter zur Schule oder zum Kindergarten gebracht hat, setzt sich zu ihm und trinkt aus Geselligkeit noch eine Tasse Kaffee. So machen sie es jeden Morgen, seit zehn Jahren, und beide möchten es nicht missen. Geredet wird dabei meist nicht viel, und in der Regel ist das ein gutes Zeichen. Heute aber ist die Atmosphäre angespannt. 

"Ich will vunnachmiddach wohl mal min' Vadder besuchen", sagt Eilert unvermittelt, in jenem Gemisch aus Hoch- und Plattdeutsch, das für die jüngeren Bauern dieses Landstrichs so charakteristisch ist. 
"Warum?", fragt Lena Schmidtjohann mit gerunzelten Brauen. Sie mag ihren Schwiegervater nicht, und Eilert kann ihr das im Grunde nicht verübeln. Knapp antwortet er: 
"Wegen dem Wolf." 
Der Genitiv ist den Bauern der Samtgemeinde, den alten wie den jungen, unbekannt. 

Tags zuvor hat Eilert Schmidtjohann auf seiner Weide ein totes Kalb gefunden - halb ausgeweidet, offenbar gerissen von einem wilden Tier. Eilert ist sich sicher, das kann nur ein Wolf gewesen sein. Zwar wäre das seit Menschengedenken der erste Wolf, der in der Samtgemeinde auftaucht, aber in einigen anderen Landkreisen der weiteren Umgebung hat es solche Fälle schon gegeben. 

"Und was soll dein Vadder dabei tun?", fragt Lena eine Spur gereizt. "Der lacht dich doch nur aus! Du wärst selbst schuld, wird er dir sagen, dass du deine Rinder auch im Winter auf der Weide lässt, statt sie in den Stall zu sperren." Ihre großen blauen Augen funkeln zornig, und Eilert kann nur denken: Sie ist immer noch genauso schön wie vor zehn Jahren. 
"Kuck mich nicht so verliebt an!", blafft Lena. "Ich versuch' gerade, mit dir zu streiten!" Aber dann muss sie doch lachen. 

"Süh mal", erwidert Eilert sanft, "es is' wahr, dass Vadder nichts davon hält, wie ich meinen Hof bewirtschafte. Aber das hat damit nichts zu tun. Der Wolf kann auch für sein Vieh gefährlich werden, das muss er einsehen." 
Lena trinkt ihren Kaffee aus, und als sie vom Frühstückstisch aufsteht, legt sie ihrem Mann eine Hand auf den Arm. "Mach, was du für richtig hältst", sagt sie und lächelt. 

Auf dem ganzen Weg zum Finkenhof sagt sich Eilert Schmidtjohann, seine Frau habe Recht: Der Alte werde ihm unverhohlen seine Schadenfreude ins Gesicht klatschen. Seit Eilert von der Universität nicht nur lange Haare und einen Vollbart, sondern auch einen Sack voller Ideen zu ökologischem Landbau und Bio-Viehhaltung mit nach Hause gebracht hatte, war das Tischtuch zwischen ihm und dem Alten zerschnitten, und so ist es geblieben. Auf seinem Hof, hatte Weigelt Schmidtjohann gepoltert, wolle er solchen Öko-Quatsch nicht haben; also hatte Eilert den benachbarten Wetterhof von seinem Schwiegervater Edo Lintern übernommen, zunächst in Pacht, ein paar Jahre später hat er ihn dann gekauft. Und Weigelt Schmidtjohann hatte geschworen, er werde nie wieder einen seiner Söhne auf die Universität schicken. Leider hat er neben Eilert nur noch einen weiteren Sohn, Hergen - und der muss es nun ausbaden. Dafür soll er auch den Finkenhof übernehmen - nur wann, das steht in den Sternen. Noch fühlt Weigelt Schmidtjohann sich nämlich viel zu vital für das Altenteil. Und zu Recht, wie Eilert neidlos anerkennen muss. Manchmal kommt der Alte ihm sogar vitaler vor als Hergen. 

Mit solchen Gedanken stellt Eilert seinen VW-Kombi vor dem Wohngebäude des Finkenhofs ab. Am Vordereingang geht er vorbei, der ist nur für Lieferanten und Fremde; Familie und Freunde nehmen den Hintereingang, und der ist tagsüber immer unverschlossen. Angst vor Einbrüchen und Diebstahl hat man vielleicht auf den größeren Dörfern wie Gimmerten und Groß Söfingen, aber nicht hier draußen auf dem Land, wo kilometerweit im Umkreis niemand wohnt, den man nicht von Kindesbeinen an kennt und mit dem man nicht um ein paar Ecken verwandt ist. 

Eilerts Mutter, die am Küchentisch sitzt und Wintergemüse zum Einkochen vorbereitet, erschrickt fast, als ihr Erstgeborener die Küche betritt; aber es ist ein freudiges Erschrecken. Kurzerhand lässt sie Messer und Kohlstrünke fahren und springt von ihrem Stuhl auf, um den Sohn in ihre kräftigen Arme zu schließen. "Eilert, min Jung'", sagt sie gerührt. "Dat du us ok mal woller besöken kummst." Und was als Nächstes kommt, weiß Eilert schon im Voraus: ein Griff in seine schulterlangen dunkelblonden Locken, ein missbilligendes Kopfschütteln. "Ach Jung, wie du woller utsöchst. Wisst du di nich mol din' Haar snieden laten." Sie spricht den Satz ohne ein Fragezeichen am Ende aus, denn im Grunde ist es keine Frage: Sie weiß, dass sie darauf keine Antwort erhalten wird, jedenfalls keine, die ihr gefallen würde. Daran hat sie sich gewöhnt. Aber sagen muss sie es trotzdem
"Ick wull eens mit Vaddern snacken", erklärt Eilert, die Kritik an seiner Haartracht souverän ignorierend. 
"Vadder is nich an't Huus", erwidert seine Mutter. 

Das ist ungewöhnlich. Es ist heller Nachmittag an einem ganz normalen Arbeitstag, es ist weder Wochenmarkt noch sonst ein ersichtlicher Grund für einen Bauern, außer Haus zu tun zu haben. Eine Sitzung des Samtgemeinderats, in dem Weigelt Schmidtjohann Fraktionssprecher der 'Unabhängigen' ist, steht auch nicht an. "Wo is he denn?", fragt Eilert daher. 
So genau kann seine Mutter ihm das nicht sagen. Gestern Abend hat der Alte sich aus heiterem Himmel in seinen grünen Rock geworfen, die Jagdflinte unter den Arm geklemmt und ihr beim Verlassen des Hauses lediglich zugerufen, sie solle nicht mit dem Essen auf ihn warten. Seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen. 
Eilert ahnt, was das zu bedeuten hat, und im ersten Moment weiß er nicht, ob er lachen oder zornig werden soll. Rasch verabschiedet er sich von seiner Mutter - nicht ohne ihr zu versprechen, sie bald wieder zu besuchen - und springt wieder in seinen Kombi. 

Unweit eines mindestens zwei Jahrhunderte alten Grenzsteins, der die Grenze zwischen dem Dorf Gimmerten und den Bauerschaften Finkenhof und Winnenhögede markiert und damit auch das westlichste Ende von Weigelt Schmidtjohanns Landbesitz bezeichnet, steht seit Menschengedenken ein Jagdhochsitz. Dorthin lenkt Eilert nun sein Fahrzeug, und richtig: Da oben hockt der Alte, das Gewehr im Anschlag. Seit gestern Abend, denkt Eilert kopfschüttelnd. Das müssen schon über zwanzig Stunden sein

Er steigt aus dem Wagen und ruft: "Vadder, was machst du da oben?" 
"Was wohl", grunzt der Alte unwirsch. "Ich beschütze meinen Besitz!" 
"Wovor?", fragt Eilert. 
"Dass gerade du das fragst! -- Vor dem Wolf natürlich, der dein Kalb gerissen hat! Auf meinem Land will ich den nicht haben, das kannst du wissen!" 
"Aber Vadder", erwidert Eilert so begütigend, als spräche er mit einem Schwachsinnigen. "Wölfe stehen unter Naturschutz." 
"Naturschutz, papperlapapp!", kläfft der Alte. "Und wer schützt mein Vieh?" 
Eilert schweigt einen Moment und lächelt nachsichtig. Dann, als hoffe er, seinen Vater zugänglicher zu finden, wenn er Plattdeutsch mit ihm spricht, sagt er ruhig: "Kumm man daal, Vadder." 
"Nä, kumm du man läwer 'rup!", entgegnet der Alte ohne Zögern. 
Immerhin, denkt Eilert und macht sich daran, die moosbewachsenen Sprossen der etwas wackligen Leiter zu erklimmen. 


Als Eilert oben ankommt, rückt sein Vater auf der harten Holzbank ein Stück zur Seite, damit der Junior sich neben ihn setzen kann. Das ist ein gutes Zeichen, aber ein noch besseres Zeichen ist es, dass der Alte sein Gewehr herunternimmt und gegen die Wand des Hochsitzes lehnt. 
Eine Weile sitzen die Beiden schweigend nebeneinander und schauen ins Weite. Dann fragt der Alte: "Und was meinst du, was wir mit dem Wolf machen sollen - wenn wir ihn nicht erschießen dürfen?" 
"Wir müssen einen Wolfsberater aus Oldenburg kommen lassen", erwidert Eilert fest. 
Sein Vater lacht höhnisch auf. "Wolfsberater?", poltert er los. "Was' das denn für'n Unfug?" 
Eilert bleibt ganz ruhig. "Es is' nun mal so, Vadder. Dass es neuerdings wieder Wölfe in Niedersachsen gibt, nachdem es jahrzehnte, ja fast Jahrhunderte lang keine gab, das bringt natürlich Probleme mit sich. Gerade für die Bauern, und nicht nur hier bei uns. Deshalb gibt es Wolfsberater, die den Bauern helfen, damit umzugehen." 

Während er spricht, geschieht etwas Erstaunliches: Weigelt Schmidtjohann zieht seine kurze, krumme Pfeife aus der Tasche seines Jagdrocks und stopft sie in aller Seelenruhe. "Jung, du snackst all woller as'n Book", sagt er, er lächelt sogar dabei. 
Minuten vergehen, in denen der Alte einige stark riechende Wölkchen in den Himmel pafft; dann fragt er: "Und du meinst, dass das hilft?"
"Das is' das Einzige, was hilft, Vadder." 
"Und wer soll das bezahlen?", fragt Weigelt kritisch. 
Eilert lacht. "Du bist doch so'n großes Tier im Samtgemeinderat", sagt er. "Da bist du doch wohl genau der richtige Mann, um durchzusetzen, dass die Samtgemeinde die Kosten übernimmt." 

Der Alte pafft noch ein paar Wölkchen, dann nickt er langsam und bedeutungsschwer, und Eilert weiß, dass es sich gelohnt hat, seinen Hof einen nachmittag lang sich selbst zu überlassen. 


*      *      *

[Fortsetzung folgt!] 


 

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